Im Radius

oder: Wie ich lernte die Bombe zu lieben


Ein Erfahrungsbericht vonMia Pelenco

Veröffentlicht in Mut & Liebe, Ausgabe Nr. 46

Es ist still! Die Sonne scheint, die Vöglein zwitschern, der Rest des Dorfes scheint in Deckung zu gehen.

Wir liegen im Bombenradius. Aber nur vielleicht. Alle im Umkreis sitzen auf gepackten Taschen, wir sind vorbereitet, so auch ich. Freunde und Bekannte machen Angebote, wo man unterkommen könnte, zur Not auch über Nacht. Der Kampfmittelräumdienst hat ein großes Banner am Maindamm aufgehängt mit modernem Logo: Bombe stylisch aus dem Grafikprogramm. Es ist ein alltägliches Geschäft mit dem Bombengerümpel aus dem 2. Weltkrieg. Denn wo gebaggert und in die Tiefe gegraben wird, trifft man sehr häufig auf diese explosiven Überreste. In diesem Jahr wechselten sich Offenbach und Hanau ständig ab mit den Evakuierungsszenarien, zuletzt in Bürgel. Im schlimmsten Falle sind mehrere tausend Menschen betroffen, davon auch viele, die Liegendtransporte und Betreuung für diese Zeit benötigen. Es ist jedes Mal ein enormer logistischer Aufwand. Krankenhäuser und Seniorenheime können glimpflich davonkommen, wenn große Gebäude davor Sicherheit geben, dann verspricht der „Sprengschatten“ Sicherheit vor der möglichen Explosionsdruckwelle. Allgegenwärtig begegnet einem dieses Kriegsvokabular, dem wir uns meistens gar nicht mehr bewusst sind. Da wird das Kriegsarsenal geöffnet, es fallen vermeintlich alltägliche Begriffe entgegen, wie bspw. das „Bombenwetter“. Blauer Himmel-Sonnenschein-Schwing-Das Bein, nein, denn es bedeutet eigentlich: klare Sicht für feindliche Flieger, um die Kampfmittel treffsicher abzuwerfen.

Seit Wochen nun ist ungewiss, was im Rumpenheimer Maindamm klemmt. Der nicht zu identifizierende Fund, der während der Maindamm-Sanierungen zum Vorschein trat, lässt bei manchen Alt-Rumpenheimern Kriegserinnerungen aufflammen. Es wird wild spekuliert, warum hier eine Bombe gelandet sein sollte. Während des 2. Weltkrieges war eine Einheit der Heimatflak im Rumpenheimer Schloss untergebracht und wurde Angriffsziel alliierter Bomber. Die Gebäude wurden 1943 durch Brandbomben schwer beschädigt.

Andere erzählen von den Routen der feindlichen Flieger, über den Main zur Chemischen Fabrik Cassella (I.G. Farben). Manche wissen angeblich um den alten Blindgänger in den Tiefen des Maindamms. Plötzlich stecken wir mitten in den Geschichten von Zeitzeugen, wie in einer Zeitreise. Das leibhaftige Andenken daran, die vermeintliche Bombe, soll also hier in der Nähe des Ufers seit über 70 Jahren im Grundwasser dümpeln.

Ich sitze immer noch herum, in Erwartung der anstehenden Evakuierung. Ein neues und unerwartetes Gefühl der Heimatlosigkeit steigt in mir auf, das angenehme Homeoffice schon schmerzlich missend, den langen Arbeitsweg vor Augen. Werde ich heute wohl wieder nach Hause kommen? Viele andere Betroffene aus dem Evakuierungsradius werden den Tag in einer der hergerichteten Hallen verbringen müssen. Mein Mitgefühl steigt minütlich für alle, die schon viel längere Zeit mit ihrem wenigen Hab und Gut in solchen Hallen ausharren, und die sich jeden Tag fragen, wann sie wieder nach Hause kommen. Als sei der letzte kriegerische Zustand der 2. Weltkrieg gewesen. Tatsächlich befinden wir uns seit 2022 in Europa wieder im Krieg. Die Front befindet sich zwar 1.500 Kilometer entfernt, doch die russische Invasion in die Ukraine hat weltweit zu Unsicherheit, Störungen auf den Märkten, zu Inflation und Energiekrise geführt. Tägliche Berichte in den Nachrichten begleiten uns, Bilder von zerbombten Häuserfronten, Toten und Verletzten. Waffen- und Panzerlieferungen, Kriegsdebatten und Flüchtlingshilfe sind Hauptthemen, nicht nur in politischen Talkshows.

Die Zeit vergeht nur langsam. Als um 11 Uhr nach ungewissen Stunden die Nachricht im Dorf die Runde macht, dass das unbekannte Objekt keine Bombe ist, ist die Erleichterung erstaunlich groß: Es wird ein Tag wie jeder andere. Aber dieser Tag hat sich verändert und ist zu einem Geschenk geworden. Keine Bombe wurde entschärft – aber dafür mein Bewusstsein geschärft, für unseren friedlichen Alltag tagtäglich sehr dankbar zu sein. Meine Wohnung war im letzten Winter trotz allem warm. Das Dach über meinem Kopf wird nicht durch Bombardierungen bedroht. Falls ich mich einmal nicht in meinem sicheren Zuhause aufhalten darf, kann ich dennoch dorthin zurückkehren. Die Sicherheit ist nicht in Frage gestellt.

Es ist still! Die Sonne scheint, viele Telefone klingeln, das Dorf atmet spürbar auf.